Fulvio Pierangelini: Ich habe mit 16 Jahren zu arbeiten begonnen – ganz simpel, um etwas Geld zu verdienen. Mit 17 war ich dann Bademeister am Meer, später Segelbootverleiher. Damit habe ich mir mein Studium finanziert. Als ich mein Studium beendet hatte, sagte ich zu meinen Eltern: „Jetzt habt ihr einen Doktor in der Familie – aber ich werde Koch.“ (lacht)
War das für Ihre Eltern ein Schock?
Nicht unbedingt, aber sie waren überrascht. 1977 habe ich dann mit ein paar Freunden ein kleines Restaurant eröffnet. Während meiner vorherigen Sommerjobs hatte ich viel Zeit in Küchen verbracht – nicht als Koch, sondern als stiller Beobachter. Ich habe den Köchen zugesehen, den Geruch aufgesogen, gelernt, wie man Crêpes Suzette flambiert, wie ein Pfeffersteak zubereitet wird. Ich war fasziniert.

Und irgendwann standen Sie dann selbst am Herd...
Genau. Ich habe direkt vor den Gästen gekocht – damals eher ungewöhnlich. 1980 eröffnete ich mein eigenes Restaurant. Es war ein echter Zufall. Jemand sagte: „Warum eröffnest du nicht ein Restaurant? Du kochst besser als jeder andere!“ Ich hatte kein Geld – gerade mal 500 oder 600 Mark. Aber ich tat es.
Ein mutiger Schritt. Wo war dieses Restaurant?
In der absoluten Einöde. Keine Straße, keine Autobahn – mitten im Nirgendwo in San Vicenzo in der Toskana. Von Rom aus vier Stunden, von Florenz drei, von Mailand sieben. Aber es war am Meer, und das war alles, was ich wollte: Kochen und auf das Meer schauen. Ohne Internet, ohne Marketing. Und doch kamen die Leute. Irgendwann galt mein Il Gambero Rosso als das beste Restaurant Italiens, war sogar weltweit unter den Top-Adressen.

Sir Rocco Forte (li.) und Fulvio Pierangelini
Trotzdem haben Sie es 2008 – das Restaurant war in diesem Jahr auf Platz 12 der The World´s 50 Best Restaurants – einfach geschlossen. Warum?
Ich war erschöpft. Ich habe nie jemanden in meine Küche gelassen, wenn ich nicht selbst da war. Wenn ich nicht kochte, war das Restaurant geschlossen. Und dann kam Sir Rocco Forte auf mich zu. Ich kannte die Familie, sie hatten ein Anwesen in der Nähe und waren oft Gäste bei mir. Jahrelang fragten sie mich, ob ich mit ihnen arbeiten wolle. Irgendwann sagte ich dann ja.
Und dann wurden Sie kulinarischer Berater der Rocco Forte Hotels. Was war die Idee dahinter?
Das Konzept war klar: Keine Michelin-Sterne jagen. Stattdessen wollten wir Exzellenz vom ersten Croissant am Morgen bis zur letzten Praline am Abend. Ich wollte nicht einfach meine frühere Küche kopieren. Hotelgäste sind andere Menschen als meine Stammgäste von früher. Ich musste mich neu erfinden, ohne Kompromisse.

Wie sah das aus?
Ich koche intuitiv. Ich wollte nicht einfach Signature Dishes wieder aufwärmen. Wenn ich zum Beispiel mein früheres Gericht „Taube mit Pfeffer, Erinnerung an eine Reise“ serviert hätte, hätten Hotelgäste gedacht, ich sei verrückt. Also habe ich all mein Wissen, mein Herz, meine Technik genommen – und alles neu interpretiert. Ich koche also immer noch selbst – wenn auch anders. Heute gibt es zehn Restaurants, die unter meinem Namen laufen. Aber das Kochen bleibt. Es ist keine Technik, kein Konzept. Es ist Gefühl.

Sie gelten als ein Koch mit klarer Handschrift. Hat sich Ihre grundsätzliche Philosophie über die Jahre verändert?
Nein, meine Philosophie hat sich nie geändert. Was sich verändert hat, ist vielleicht mein Blick auf die Menschen. Früher dachte ich, wer Geld hat, hat auch Geschmack. Ein großer Irrtum. Meine Konstante war immer die Besessenheit: für Qualität, für Technik, für das Produkt – und für den Respekt gegenüber dem, was wir verarbeiten. Ich habe viele Jahre lang mein Wissen für mich behalten. Heute gebe ich es weiter – offen und gerne. Damals war ich eifersüchtig auf mein Essen. Heute weiß ich: Es war dumm.
„Ich wollte Sizilien verstehen, nicht kolonialisieren“
Warum dieser Wandel?Weil ich gemerkt habe, dass man das Wissen teilen kann – und trotzdem macht es niemand so wie ich. Ich bin heute stolz, dass 300 bis 400 junge Köche meinen Stil lernen. Heute haben wir ja ein Problem: Die Lehrer sind nicht mehr real. Heute sind es Instagram, YouTube und TikTok. Aber man kann Geschmack nicht durch ein Display spüren. Kochen ist kein Showbusiness. Kochen ist eine intime, stille Handlung.

Ihr Talent – wurde es Ihnen geschenkt oder haben Sie hart dafür gearbeitet?
Ich habe es nur gepflegt. 1998 habe ich mein Restaurant eröffnet – ohne Straße, ohne Internet, ohne Menschen. Nur ich, die Natur und das Essen. Ich habe mit älteren Damen Kräuter gesammelt, war mit Fischern draußen, habe Schafhirten begleitet. Auch hier in Sizilien. Bevor ich hier gekocht habe, war ich einen Monat lang nur unterwegs, um zu lernen. Ich habe nachts Ricotta gemacht, morgens wilde Kräuter gesucht. Erst dann habe ich den Herd angemacht.
Warum dieser enorme Respekt vor Sizilien?
Sizilien ist eine Geschichte von ständiger Besetzung verschiedener Eroberer. Ich wollte nicht der Nächste sein, der kommt, um etwas zu nehmen. Ich wollte geben. Verstehen, nicht kolonialisieren. Mein Stil basiert auf Respekt – nicht auf Dominanz.

Die Villa Igiea - Traumhaftes und geschichtsreiches Anwesen in Palermo, Sizilien

Wie sieht die Zusammenarbeit mit Rocco Forte nun konkret aus?
Für jedes Rocco Forte Hotel kreiere ich andere Gerichte. Mein Markenzeichen sind Ravioli – aber überall anders. In Berlin anders als in Florenz, in Rom anders als in Florenz oder München. Immer mit lokalen Aromen, aber meiner Handschrift. Das ist mein Anspruch.
Was sagen Sie zur heutigen Fine-Dining-Welt, mit Listen wie „50 Best“ und großen Gala-Events?
Wie sich das entwickelt hat, ist beeindruckend. Ich war zum Beispiel in Valencia bei der Gala der World`s 50 Best Restaurants im Jahr 2023 – 2.000 Leute auf der Afterparty. Aber ehrlich gesagt: Die wahre Küche findet nicht auf dem roten Teppich statt. Ich erinnere mich lieber an die Tage in der Küche mit Marco Pierre White oder Ferran Adrià. Das war eine andere Zeit, eine andere Energie.
Sie sagen, viele machen heute alles gleich – auch die Fehler?
Genau. Ich reise viel – China, New York, Berlin, Rom. Und überall sehe ich das Gleiche: dieselben Gerichte, dieselben Teller, dieselben Fehler. Irgendwann dachte ich: Vielleicht ist es mein Fehler? Aber nein – ich habe es nur richtig gemacht. Die Leute wollen heute schnelle Lösungen. Aber in meiner Küche gibt es keine Tricks, keine Chemie – nicht einmal im Eis.
„Man muss das Essen streicheln, fühlen, schmecken, lieben“
Kein Verdickungsmittel im Eis? Keine Emulgatoren?Gar nichts. Mein Eis ist wie es sein soll. Es schmilzt, wenn es schmelzen soll. Und das ist gut so. Ich bin kein Fiat 500, ich bin ein Mensch. Ich will keine synthetischen Aromen essen. Trüffelöl zum Beispiel – ein Tropfen echter Trüffel, vermischt mit 99 % Chemie. Das ist kein Luxus, das ist Betrug. Ich habe einmal zum Beispiel ein echtes Tagliolino mit frischem Trüffel gemacht – der Gast mochte es nicht, weil er den „künstlichen“ Geschmack gewohnt war.
Ein echtes italienisches Gericht wird also oft nicht erkannt?
Leider ja. Vor allem außerhalb Italiens. Viele denken, italienisches Essen sei das, was sie in Touristen-Trattorien serviert bekommen. Aber das ist nicht unsere wahre Küche. Die wahre italienische Küche lebt vom Produkt und vom Handwerk.

Was halten Sie von modernen Techniken wie Sous-vide oder Stickstoff?
Ich bin kein Fundamentalist. Wenn es nötig ist, nutze ich alles. Aber ich bevorzuge den direkten Kontakt mit den Produkten. Kochen ist Berührung. Man muss das Essen streicheln, fühlen, schmecken, lieben. Sympathie, Harmonie, Verliebtsein – nur so kann man gut kochen. Es geht nicht nur um Zutaten, sondern darum, wann man welche einsetzt und wie man sie behandelt. So kann selbst das das Schneiden von Rucola ein Akt der Achtsamkeit sein.
Wie meinen Sie das?
Ich habe kürzlich jemandem gezeigt, wie man Rucola richtig schneidet. Er fragte: „Chef, wo genau soll ich schneiden?“ Ich sagte: „Frag den Rucola – er wird dir sagen, wo.“ Das klingt verrückt, aber es ist der Schlüssel: zuhören, beobachten, spüren.
Zum Abschluss, welches der Rocco-Forte-Hotels ist Ihr Lieblingsort?
Immer das Rocco Forte, in dem ich gerade bin. Im Moment ist es also Sizilien. In Verdura, ganz hier in der Nähe, habe ich zehn Hektar Land – wir bauen dort Kräuter und Gemüse für die Rocco Forte Hotel-Restaurants an. Aber das gilt überall. Auch in München oder im Hotel de Rome in Berlin.

Und was kommt dort jeweils auf die Teller?
In München zum Beispiel Ravioli mit Spargel, Kartoffeln und Kräutern – je nach Saison. Damals, als die Villa Kennedy in Frankfurt noch ein Rocco Forte Hotel war, habe ich die Ravioli mit „Grüner Soße“ gemacht. Ich habe das Rezept etwas angepasst, Basilikum und Minze zur Frankfurter Kräutermischung gegeben. Es war ein voller Erfolg.
Und im Hotel de Rome in Berlin?
(Lacht.) Currywurst!
Vielen Dank, für das nette und interessante Gespräch, Herr Pierangelini!
Alle weiteren Informationen unter: www.roccofortehotels.com
Zur Person: Fulvio Pierangelini
Fulvio Pierangelini ist ein renommierter italienischer Koch und kulinarischer Visionär. Er gilt als stille Legende der italienischen Haute Cuisine – als Koch, der in der Lage ist, mit wenigen Zutaten kulinarische Magie zu erschaffen. Geboren in Italien, machte er sich mit seinem legendären Restaurant "Il Gambero Rosso" in San Vincenzo (Toskana) international einen Namen. Das Restaurant, mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet, galt über Jahre hinweg als eines der besten Italiens. Pierangelinis Küche ist geprägt von radikaler Einfachheit, handverlesenen Zutaten und tiefer Verbundenheit zur italienischen Tradition.
Nach der Schließung seines Restaurants im Jahr 2008 wurde er Creative Director of Food für die Hotelgruppe Rocco Forte Hotels tätig wurde. In dieser Rolle berät er Luxushotels in ganz Europa und prägt die gastronomische Identität der Marke.

Derk Hoberg traf Fulvio Pierangelini in der Villa Igiea zum Interview