Artenvielfalt nur zu retten, wenn wir ihren Wert in der Küche erkennen Joxe Mari Aizega -- Leiter des Basque Culinary Center
Ein Gastbeitrag von Joxe Mari Aizega

Artenvielfalt nur zu retten, wenn wir ihren Wert in der Küche erkennen

In diesem Sommer trafen sich einige der renommiertesten Küchenchefs der Welt in Mexico City. Anlass des Treffens war nicht nur die Diskussion der neusten Trends in der Gastronomie, sondern auch ein Thema, das für gewöhnlich zum Gebiet von Umweltschützern und Politikern zählt: der Erhalt der Artenvielfalt. Der mexikanische Koch Enrique Olvera empfing Gaston Acurio, Michel Bras, Dominique Crenn, Joan Roca und Yoshihiro Narisawa (Bild unten), sowie Autoren, Landwirte und Experten für Artenvielfalt.

Ein Gastbeitrag von Joxe Mari Aizega, dem Direktor des Basque Culinary Center. Der Artikel erschien zunächst am 26.9.2017 in der spanischen Tageszeitung La Vanguardia

Die Diskussionen fanden in der Weltkulturerbe Xochimilco statt, wo die Delegierten auf Heuballen in einem eigens erbauten, biologisch abbaubaren Festzelt in den berühmten Chinampas-Feuchtbiotopen saßen. Auf diesen schwimmenden Inseln baut Enrique Olvera für sein Restaurant Gemüsesorten und Blumen an – Teil seiner Bemühungen, mit der lokalen Bevölkerung am Erhalt dieses überwältigenden Gebiets zu arbeiten. Olveras Projekt ist nur ein Beispiel für die Aktionen vieler Küchenchefs auf der ganzen Welt, die sich an der sozialverantwortlichen Gastronomiebewegung beteiligen. International produzieren zahlreiche Köche inzwischen ihre eigenen Zutaten ökologisch in Gemeinschaftsprojekten, auf speziellen Feldern und sogar auf den Dächern ihrer eigenen Restaurants.

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Podiumsdiskussion in Mexiko (©Alan Wheeler - Apollo PR)

"Lateinamerika hat in den letzten 40 Jahren 83 Prozent seiner Artenvielfalt verloren"

Von den 8.800 bekannten Tierrassen der Erde sind bereits 7 Prozent ausgestorben und 17 Prozent vom Aussterben bedroht, so ein aktueller Bericht der Welternährungsorganisation der vereinten Nationen (FAO). Allein Lateinamerika hat laut dem World-Wide Fund for Nature (WWF) während der letzten 40 Jahre 83 Prozent seiner Fische, Vögel, Säugetiere, Amphibien und Reptilien verloren. Die Erosion der Artenvielfalt bedroht auch die Zukunft der Menschheit. Im Lebensmittelbereich wird der Rückgang von Rohstoffen unsere Bemühungen vereiteln, Hunger und Mangelernährung auszumerzen. Wenn wir spätestes 2050 eine Weltbevölkerung von neun Milliarden Menschen ernähren wollen, während wir Armut und Ungleichheit inmitten der Unsicherheiten des Klimawandels bekämpfen, brauchen wir eine grundlegende Umstellung.

Der Gastronomiesektor kann und muss Teil dieses Wandels sein. Haushalte, Restaurants und Märkte hängen vom Erhalt der Artenvielfalt ab. Die Natur bietet die grundlegenden Zutaten unserer Küchen. Je größer die uns verfügbare Vielfalt und die Qualität, desto nachhaltiger ist unsere Produktion, desto bedeutsamer der Beitrag der Gastronomie zur sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft.

Die Entwicklungen in Lateinamerika zeigen, wie sich der Gastronomiesektor diesen Herausforderungen stellt. Die Aufmerksamkeit dafür wächst, die Ressourcen Amazoniens auf nachhaltige Weise zu nutzen und in der Gastronomiewelt das öffentliche Bewusstsein zu schärfen, um sowohl unausgewogene Ernährungsweisen zu verändern als auch der marginalisierten Landbevölkerung kontinuierlichen Ertrag zu ermöglichen. Das Amazonasgebiet wird zunehmend nicht mehr nur als beeindruckender Wald, sondern auch als eine der reichhaltigsten Vorratskammern der Erde von unendlichem kulinarischen Wert erkannt. Ein kleines Vorbild schuf Alex Atala 2013, als er das ATA-Institut gründete, um Köchen und Konsumenten unbekannte einheimische Produkte nahezubringen. Es schafft Verbindungen zwischen Restaurants und Produzenten und betreibt ein Geschäft in Sao Paulo, das 600 Produkte aus indigenen Gemeinschaften Amazoniens führt.

Auch Peru trug maßgeblich zu dieser Art von gastronomischem Aktivismus bei, als der namhafte peruanische Küchenchef Gaston Acurio an der Kampagne mitwirkte, die genetisch veränderte Kulturpflanzen für ein Jahrzehnt verbietet. In Peru ist zudem das „Cocinero-Campesino-Bündnis“ beheimatet, ein Restaurantnetzwerk, das unbekannte Produkte ins öffentliche Bewusstsein bringt und so einen kleinen, aber wachsenden Markt schafft für bislang übersehene Produkte wie die einheimische Kartoffel oder die peruanische Sardelle Anchoveta, die traditionell weggeworfen oder als Tierfutter genutzt wurde.

Andere peruanische Köche wie Pedro Miguel überraschten mit der Verwendung von Arten, die bislang nicht als würdige Zutaten in Betracht gezogen wurden – wie den Arapaima (in Südamerika Paiche genannt), einen bis zu 100 Kilogramm schweren und zwei Meter großen Fisch. Leonor Espinoza, die den diesjährigen Basque Culinary World Prize gewann, rückte bislang unbekannte Chili-Sorten aus Amazonien ins Bewusstsein.

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„Köche sind die besten Hüter der Artenvielfalt“

In Mexiko arbeiten weitere Gastronomiefachleute mit Landwirten und Fischern zusammen, um indigene Nahrungsmittel auf nachhaltige Weise anzubauen – darunter einige von bedeutendem historischen Wert. Der mexikanische Koch Ricardo Muñoz Zurita half beispielsweise bei der Rettung der Chilhuacle-Peperoni mit, die eine wesentliche Zutat der schwarzen Mole darstellt und aufgrund von Verwüstungen durch die weiße Mücke fast ausgerottet wurde. Zurita führt an, dass Köche zu den besten „Hütern” von Artenvielfalt zählen. Zwar sind Pflanzenarten auch gefährdet, wenn man sie auf destruktive Weise anbaut, doch sie sind vergleichbar bedroht, wenn wir ihren Geschmack nicht wertschätzen und sie nicht in unseren Küchen verwenden – da wir ihrer Zerstörung dann achtlos und desinteressiert gegenüberstehen. Nur wenn sie auf unseren Esstischen auftauchen, haben wir ein Interesse daran, sie am Leben zu erhalten. Für ihn ist die Unkenntnis darüber, wie eine natürliche Zutat verwendet werden kann, nur eine weitere Form der Ausrottung.

Der Einfluss solcher Gastronomen kann ein wichtiger Katalysator für die Veränderung der Verhaltensmuster von Konsumenten sein, hin zu vielseitigeren und nachhaltigeren Nahrungsmitteln – was den Druck von bestimmten Tier- und Pflanzenarten nimmt und Artenvielfalt schützt. Sie folgen dem Weg der ersten Generation von Vorreitern – man denke an Carlo Petrini, den Urheber der Slow-Food-Bewegung in Italien, an René Redzepi aus Dänemark, der weltweit eine Leidenschaft für die Suche nach wildwüchsigen, einheimischen Nahrungsmitteln anregte oder an Dan Barber und Alice Waters – klare Verfechter der „Farm-to-Table“-Bewegung in den Vereinigten Staaten. Der weltweite Kampf um den Erhalt der Artenvielfalt lässt sich nicht ohne den Gastronomiesektor und seine Möglichkeiten angehen, der mit Einfluss, Kreativität und Dynamik für Aufmerksamkeit sorgen kann. Es bedarf der Leidenschaft seiner Wortführer und ihres Engagements, den eigenen Einfluss auf die Gesellschaft zu priorisieren.