André Drechsel – Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Sommelier Ingo Pertramer -- Vorhang auf für André Drechsel: Ausgezeichnet vom Gault-Maillau und Sommelier des Jahres 2023 in Österreich (Rolling Pin)
Essen und Trinken

André Drechsel – Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Sommelier

2023 war ein hervorragender Jahrgang für Spitzensommelier André Drechsel aus dem Wiener Restaurant TIAN, heimste er doch gleich zwei renommierte Auszeichnungen ein. Dabei passt der gebürtige Vorarlberger so gar nicht in das Schema eines klassischen Sommeliers. Mit seiner ihm eigenen Art, Weine zu präsentieren und servieren, eckte er in seiner Zunft oft an, machte in Sachen Qualität und Service aber nie Kompromisse. Wir haben den Spitzensommelier zum Gespräch über die klassische Weinsprache, seinen eigenen Stil und seine persönlichen Wohlfühlweine gebeten.

worlds of food: André, woher kommt Ihre Leidenschaft für den Wein?

André Drechsel: Eigentlich verhält sich das so wie bei der Jungfrau und ihrem Kinde. Nach dem Abitur habe ich eine Lehre zum Restaurantfachmann begonnen und habe dort mit jüngeren Mitschülern gelernt, die noch keinen Alkohol trinken durften. Also wurden Fruchtsäfte degustiert und meine Lehrerin merkte rasch, dass ich talentiert war. Eigentlich war ich damals noch ein Biertrinker – was ich im Übrigen auch heute noch mag. Schon im zweiten und dritten Lehrjahr habe ich die Jungsommelier-Lehrlingsmeisterschaften gewonnen. Die Leidenschaft für den Wein war geboren. Damals habe ich mich natürlich auch noch wesentlich mehr an die übliche Weinsprache gehalten, das habe ich mir dann im Laufe der Jahre abgewöhnt.

andre drechsel sommelier
André Drechsel
Was hat Sie daran gestört?

Früher dachte ich wenn ich eine Weinbeschreibung gelesen habe: Hoffentlich schmeckt der Wein nicht so, wie es dort steht. Und klassische Sommeliers sprechen gerne von exotischen Fruchtnoten mit Anklängen von diesem und jenem, wenn sie einen Wein empfehlen. So lernt man es nun mal, aber das wiederholt sich alles ständig. Oft sind Gäste auch eingeschüchtert, wenn Sommeliers einen Wein lang und breit beschreiben. Wenn man sie dann fragt, wie Ihnen der Wein schmeckt, sagen kleinlaut, dass sie sich ja nicht auskennen - sie haben Angst sich zu blamieren. Dabei geht es doch einfach nur darum, ob ihnen der Wein schmeckt.

Wie geht das in Ihren Augen besser?

Man sollte die Gäste bei der Hand nehmen, ihnen die Grundlagen erklären. Dann wird der Gast auch verstehen, worum es geht. Zum Beispiel, dass die Tannine im Rotwein für das pelzige Gefühl auf der Zunge verantwortlich sind. Daher probiere ich seit vielen Jahren, diese vielen Verklausulierungen in der Weinsprache zu vereinfachen. Aber natürlich bin ich mit meiner Art auch viele Jahre angeeckt. Da gab es nicht wenige traditionelle Sommeliers die sagten, dass ich die Weinsprache nicht respektieren würde und dass das unserem Berufsstand nicht gerecht würde. Ich bin aber auch kein Wettbewerbssommelier, sondern ein Sommelier fürs Restaurant. Dort gehe ich individuell auf den Gast ein. Kennt er sich aus, spreche ich eher die Weinsprache, vergleiche Regionen, Weinlagen, etc. Ein Gast, der sich nicht so gut auskennt, zahlt aber genauso viel für ein Dinner bei uns und hat es genauso verdient, dass er einen geilen Abend hat. Und den soll er bekommen: Ich mag schließlich kein Schubladendenken und keine Arroganz.

Wie würden Sie denn Ihren Stil und Ihre Weinsprache beschreiben?

Wahrscheinlich trifft es „frech“ am besten. Grundsätzlich verurteile ich die althergebrachte Weinsprache ja nicht, ich sage aber frei heraus, was ich denke – ganz egal ob es um Wein oder soziale und politische Themen geht. Das ist meine Art.

Wie wichtig ist die Sensorik, also das tatsächliche herausschmecken bestimmter Aromen, für einen Sommelier?

Bei Wettbewerben natürlich wichtiger als im täglichen Business im Restaurant. Dort probieren wir die Weine ja vorher zum Essen, sprechen mit Paul Ivić und dem Team darüber. Man sagt mir auch nach, dass ich ein gutes Feingefühl beim Wein-Pairing habe und sehr fokussiert auf dieses Thema bin.

Hat man es als Sommelier in einem vegetarischen Restaurant wie dem TIAN schwerer als Sommelier? Ein kräftiges Fleisch mit einer intensiven Jus fehlt zum Beispiel um einen guten Roten zu begleiten…

Das empfinde ich nicht so, ich mache das ja nun auch schon ein paar Jahre lang. Aber ich höre es oft, dass es für unsere Küche schwieriger sei, eine passende Begleitung zu finden. Auf der anderen Seite gibt es bei uns aber keine Scheuklappen, keine Normen wie beispielsweise Rotwein zum Rind. Das macht es einfacher, auch mal etwas auszuprobieren und zu wagen. Wir sind mit unserer Art der Küche ohnehin Pioniere – so wie wir die vegetarische Küche im TIAN interpretieren, ohne klassische Pasta- und Reisgerichte und stattdessen mit vielen fermentierten Produkten zu kochen, tun es nur wenige andere Restaurants auf der Welt. Ähnlich unkonventionelle Dinge wagen wir auch beim Thema Wein. Die Buchungsrate der Weinbegleitung liegt bei 80 Prozent unter unseren weintrinkenden Gästen. Das spricht dafür, dass wir den Geschmack der Gäste treffen.

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Rosalind, Amaranth, Buttermilch – Ein Gericht aus dem TIAN

Das bestätigt auch die Auszeichnung zu Österreichs Sommelier des Jahres 2023. Diese wurde vom Gault-Millau an Sie und Ihren Kollegen Nico Hammerl als Team verliehen. Was zeichnet Sie als Team besonders aus?

Ich denke, solche Auszeichnungen sind darin begründet, dass in unserem gesamten Team eine gute Stimmung herrscht. Nico kam mit 19 Jahren zu uns, inzwischen arbeiten wir seit sechs Jahren zusammen und auch der Rest des Serviceteams ist schon mindestens vier, fünf Jahre bei uns. Wir alle versuchen, jedem Gast ein ganz besonderes Erlebnis bieten. Dass es bei uns mehr um Emotionen geht, als um die technische Weinsprache, hat auch Nico angenommen. Nico brachte sich aber auch von Anfang an mit eigenen Ideen toll ein, das weiß ich sehr zu schätzen und das bereichert auch das Restaurant. Und wir berichten wie gesagt mehr über die Geschichte des Weines oder des Winzers, als dass wir die einzelnen Aromanoten durchdeklinieren. Wenn ein Sommelier schon beim Einschenken von leichten Maracujanoten spricht, schmeckt man die hinterher natürlich heraus – das ist so, als ob man den Beipackzettel bei einem Medikament liest. Dann spürt man hinterher auch fast alle dort aufgeführten Risiken und Nebenwirkungen. Wir wollen die Gäste also in erster Linie unterhalten, ihnen Hintergrundwissen vermitteln und sie herausfinden lassen, ob ihnen der Wein schmeckt, den wir für sie ausgewählt haben. Umso stolzer bin ich, dass wir mit unserer speziellen Art diese besondere Auszeichnung erhalten haben.

andre drechsel nico hammerl
André Drechsel und Nico Hammerl

Sie haben also nicht wirklich damit gerechnet?

Absolut nicht, da es gerade in unserer Branche ja bisher nicht unbedingt Usus war, anders zu sein. Bei Köchen ist es schon länger ein Attribut ausgefallener zu sein, mal etwas anderes zu wagen. Ein Sommelier wird aber noch immer an der Anzahl seiner Diplome gemessen und daran, wie gut er blind verkostet. Ich habe relativ häufig von anderen Sommeliers eins auf den Deckel bekommen, wenn ich mit einem Motörhead-Shirt bei Veranstaltungen umhergelaufen bin oder die Flaschen am Hals durch das Restaurant getragen habe. Aber nicht falsch verstehen, auch ich finde die klassische Sommelier-Etikette in gewisser Weise toll zum Anschauen und gucke mir auch hier und da noch mal etwas ab. Aber selbst mache ich es eben ganz anders und im Endeffekt bin ich sehr froh, dass ich mir treu geblieben bin und mir die Individualität erhalten konnte. Wenn ich das auf die konventionelle Sommeliers-Art gemacht hätte, hätte ich mich in diesen engen Grenzen nicht wohlgefühlt, dann wäre das nichts für mich gewesen.

Wie und wo finden Sie neue Weine für das TIAN?

Überwiegend auf Messen und Reisen, bei denen wir die Winzer selbst besuchen. Ich empfinde das als enorm wichtig, den Kontakt zu den Erzeugern – vor allem zu den Einheimischen – zu halten. Ungefähr 80 Prozent unserer Weinbegleitung besteht schließlich aus einheimischen Weinen. Nicht, weil ich ein großer Patriot wäre, sondern weil wir in Österreich mit tollen Weinregionen und Spitzenweinen gesegnet sind, die man auf der ganzen Welt gerne trinkt. Hierzulande wird das oft gar nicht so wertgeschätzt – das ist schade, dass der Prophet im eigenen Land oft nicht gehört wird.

restaurant tian andre drechsel
Restaurant TIAN

Gibt es denn den einen Wein, also einen echten Allrounder, der zu ganz vielen verschiedenen Gerichten passt?

Bleiben wir hierzu bei unserem Menü im TIAN: Es gibt grundsätzlich keinen Wein, der perfekt zu acht verschiedenen Gerichten passt. Sonst wäre die Frage nach der von uns angebotenen Begleitung mit verschiedenen Weinen zu unterschiedlichen Gerichten ja auch obsolet. Aber wenn Sie nur einen Wein zum mehrgängigen Dinner genießen möchten, nehmen Sie immer die Rebsorte, die Ihnen am besten schmeckt. Ich mache das auch oft, wenn ich essen gehe und es keinen Sommelier gibt. Dann bestelle ich auf jeden Fall eine Flasche Wein, mit der ich mich persönlich wohl fühle. Da nehme ich dann nicht zu jedem Bissen einen Schluck, sondern genieße den Wein neben dem Menü.

Welcher ist denn Ihr ganz persönlicher Wohlfühlwein?

Ich trinke generell sehr gerne Weißburgunder, das muss ich schon sagen. Wenn ich aber etwas aus Österreich nennen soll, dann empfehle ich das Weingut Rosi Schuster, das auch international in einer eigenen Liga spielt und bekannt für die roten Rebsorten Blaufränkisch und Saint Lorent ist. Diese Weine sind Weltklasse, genau wie der Grüne Veltliner Hannes Schuster (Lage Ried Ungerberg, Anm. d. Red.). Davon werden nur 600 bis 800 Flaschen pro Jahr produziert, für mich einer der besten Weißweine, die es gibt. Ich könnte diese Aufzählung jetzt noch ein Weilchen weiterführen, da gäbe es nämlich noch einige andere Wohlfühlweine, die es verdient hätten genannt zu werden. (lacht)

paul ivic andre drechsel tianPaul Ivić und André Drechsel

Mit welchen Tropfen haben Sie denn auf die Auszeichnung zum Sommelier des Jahres angestoßen?

Oh, da haben wir ganz viele verschiedene Sachen getrunken (lacht). Paul hatte eine Überraschungsparty für uns organisiert, da ging es natürlich rund und auch reichlich durcheinander. Vernatsch, Gemischter Satz, Grüner Veltliner – viel von den eben bereits angesprochenen Weingütern. Und Champagner durfte natürlich auch nicht fehlen.

Zur Person: Sommelier André Drechsel

Weltoffen, experimentierfreudig und mit viel Einfühlungsvermögen für den Gast. Einige der Attribute, mit denen der Gault-Millau André Drechsel gemeinsam mit seinem Kollegen Nico Hammerl vom Wiener Restaurant TIAN zum Sommelier Team des Jahres 2023 ernannte. Nur wenige Monate später folge mit der Auszeichnung zu Österreichs Sommelier des Jahres durch das Fachblatt Rolling Pin das nächste Karriere-Highlight.

Angefangen hatte alles in seiner Heimat Vorarlberg, wo Drechsel seine Lehrzeit im Berghof Fetz am Bödele absolviert hatte. Nach einer weiteren Station in Österreich wechselte er ins Golf-Resort Henbury Manor im Norden Londons und kehrte anschließend zur Eröffnung des Le Meridien nach Österreich zurück und wurde in Wien heimisch. Nach seinem Wechsel ins dortige Fünf-Sterne-Hotel The Guesthouse engagierte Tim Mälzer Drechsel für sein damaliges Projekt Salonplafond im MAK. Ein „Karrieresprungbrett“ wie der Sommelier heute sagt, schließlich „fand Tim mich als Typ gut und das gab mir mehr Selbstvertrauen“. 2018 folgte schließlich der Wechsel ins TIAN in der Wiener Himmelpfortgasse und ist dort seither für die Weinkarte im Restaurant sowie für das TIAN Bistro am Spittelberg verantwortlich.

Alle weiteren Informationen unter www.tian-restaurant.com