Ab wann aber spricht man von Übergewicht, wann von Adipositas?
Die Diagnosen Übergewicht und Adipositas unterliegen keiner individuellen Einschätzung oder gar Interpretation, sondern sind klar definiert. Beide Begriffe beschreiben einen erhöhten Körperfettanteil an der Gesamtkörpermasse. Erfasst werden Übergewicht und Adipositas mit Hilfe des sogenannten Body-Mass-Index (BMI). Dieser lässt sich berechnen aus dem Verhältnis von Körpergewicht durch Körperlänge zum Quadrat. Als Rechenformel gilt also: BMI = Körpergewicht : (Körperlänge )2. Für den BMI im Kindes- und Jugendalter gibt es alters- und geschlechtsbezogene Normwertskalen, die sogenannten Perzentilen. Bei den kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen werden diese z.B. zu Grunde gelegt. Im Internet gibt es mehrere Seiten, die anhand solcher Perzentilen helfen, den eigenen BMI richtig einzuschätzen. Gut sind zum Beispiel die Seiten des Adipositasverband Deutschland e.V.: www.adipositasverband.de, der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter: www.a-g-a.de oder auch www.mybmi.de.Liegt der BMI oberhalb der 90sten Perzentile, spricht man von Übergewicht. Adipositas liegt vor, wenn der BMI oberhalb der 97sten Perzentile liegt. Anders gesagt: Befindet sich ein Kind mit seinem BMI auf der 97sten Perzentile bedeutet dies, dass 97 Prozent der Kinder seines Geschlechts und Alters leichter und drei Prozent schwerer sind. Extreme Adipositas bedeutet, dass der BMI sogar oberhalb der 99,5ten Perzentile liegt und damit nur 0,5 Prozent der Gleichaltrigen einen höheren BMI haben.
Jedes sechste Kind ist betroffen
Kinder, deren BMI deutlich oberhalb des altersgerechten Normwertes liegt, sind keinesfalls eine Minderheit. Mittlerweile kann man sagen, dass bundesweit sogar jedes sechste Kind von Übergewicht betroffen ist. Die Auswirkungen sind verheerend. So sagt zum Beispiel Professor Lücke: „Inzwischen finden sich im Kindes- und Jugendalter Erkrankungen wie der Diabetes Typ II, im Volksmund auch „Alterszucker“ genannt.“ Das heißt also, was lange Zeit ausschließlich eine Erkrankung bei Erwachsenen war, betrifft mittlerweile auch Kinder. Prof. Dr. Eckard Hamelmann, Direktor der Kinder- und Jugendklinik am Universitätsklinikum Bochum, betont: „Heute erleben wir in ganz Deutschland, aber auch sehr ausgeprägt bei uns im Ruhrgebiet, dass immer mehr Kinder und junge Menschen an den Folgen schlechter Ernährungsgewohnheiten leiden und daran erkranken. Dabei ist eine altersgerechte und ausgewogene Ernährung ganz wichtig, um die Entstehung vieler Zivilisationskrankheiten bereits in dieser frühen Lebensphase zu verhindern.“Kinder brauchen wieder Freude an Bewegung und gesunder Kost
Eine zweifelsfrei alarmierende Entwicklung. Aber wie kann man dieser begegnen? Prof. Dr. Eckard Hamelmann ist sich sicher, dass man diesem Trend nur mit konsequenter Aufklärungsarbeit entgegenwirken kann. Und das möglichst frühzeitig: „Wehret den Anfängen!“ ist sein Credo, denn insbesondere ab dem Schulalter steige die Häufigkeit des Übergewichts deutlich an. Die Folge: Fast doppelt so viele Jugendliche wie Kinder sind von Übergewicht betroffen. Und Studien zeigen, wer als Jugendlicher übergewichtig ist, ändert das nur noch schwer. Dazu sagt Frau Dr. Chen-Stute, ärztliche Leiterin des Adipositaszentrums Oberhausen: „Es ist bekannt, dass über 40% der 7jährigen überwichtigen Kinder und sogar um die 70% der 10 bis 13jährigen auch im Erwachsenenalter adipös bleiben.“Aufklärung muss daher bereits im Kindergarten anfangen. Prof. Dr. Hamelmann: „Kinder müssen wieder Freude an der Bewegung und an gesunder Kost haben.“
Veränderte Bedingungen machen ein gesundes Leben schwer
Klingt doch eigentlich ganz einfach. Was macht es dennoch so schwer, eine gesunde Lebensweise umzusetzen? Frau Dr. Heike Pahl-Wurster ist niedergelassene Allgemeinmedizinerin und Adipositastrainerin für Kinder und Jugendliche mit einer Schwerpunktpraxis Ernährungsmedizin BDEM in Mülheim. Sie erklärt: „Das Hauptproblem liegt sicher in unseren veränderten Lebensbedingungen. Kinder verbringen immer mehr Zeit vor Computern, Fernsehern oder Gameboys und leben in einer bewegungsarmen Umwelt. Gleichzeitig sind kalorienreiche Nahrungsmittel fast überall verfügbar und werden in großen Portionsgrößen, als Fast Food oder Snacks verlockend angeboten. Zuckerreiche Limonaden und Süßigkeiten werden in den Medien vielfältig beworben. Auch die Schulverpflegung lässt oft zu wünschen übrig. Es verwundert daher nicht, wenn Kinder und Jugendliche gesundes und kalorienarmes Obst und Gemüse oder Vollkornprodukte häufig ablehnen und lieber zu einem Schokoriegel greifen.“Im Ruhrgebiet sind tendenziell noch mehr Kinder übergewichtig
Im bundesweiten Vergleich ist die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen im Ruhrgebiet sogar noch größer. Warum das so ist und die Lebensbedingungen im Revier eine gesunde Lebensweise tendenziell noch ein bisschen schwieriger machen, begründet Prof. Hamelmann so: „Bei der Region Rhein-Ruhr handelt es sich um eines des größten Ballungszentren Europas. Essen ist überall verfügbar und wird häufig auch zum Stressabbau eingesetzt. Leider werden hier gehäuft die so genannten „Ruhrpott-Tapas“ (Pommes plus Frikadelle plus Currywurst) konsumiert, die allesamt sehr kalorienreich sind. Aufgrund der multikulturellen Bevölkerungsstruktur sind einheitliche Anti-Adipositasprogramme leider nur schwer zu realisieren“.Und das, obwohl es im Revier viele Unterstützungsangebote gibt
Um dem dennoch wirksam etwas entgegenzusetzen, passiert gerade im Ruhrgebiet sehr viel. So hat sich zum Beispiel um Prof. Dr. Eckard Hamelmann in Bochum ein Aktionsbündnis gebildet: Beteiligt sind die Universitätskinderklinik Bochum, das Familienforum, die Stiftung Kinderzentrum Ruhrgebiet, die Elterninitiative Menschen(s)kinder und die Akademie Kinderzentrum Ruhrgebiet. Mit Vorträgen, Workshops und Seminaren rückt das Bündnis das Thema „gesunde Kinderernährung“ von März bis Dezember dieses Jahres in der Universitätskinderklinik Bochum in den Fokus des öffentlichen Interesses. Vor allem die Themen Essstörungen, wie Magersucht und Übergewicht, Allergien und moderne Ernährungstherapien, z. B. bei Diabetes oder angeborenen Stoffwechselerkrankungen, stehen dabei im Mittelpunkt.„Kugelrund ist ungesund“ heißt es im Adipositaszentrum Oberhausen
Im Adipositaszentrum Oberhausen hat man sich dem Leitsatz „Kugelrund ist ungesund“ verschrieben und bietet auf Basis modernster Erkenntnisse ausgefeilte Therapieprogramme für adipöse Erwachsene sowie für Kinder und Jugendliche an. Frau Dr. Chen-Stute, ärztliche Leiterin des Zentrums: „Adipositas gilt laut Weltgesundheitsorganisation als das am schnellsten wachsende Gesundheitsrisiko unserer Zeit.“Therapieprogramm T.O.M. bindet viele Faktoren ein
Für die Altersgruppe von acht bis 12 Jahren und für Jugendliche zwischen 13 und 17 Jahren wird das Therapieprogramm „T.O.M“ angeboten. Frau Dr. Chen-Stute: „Die Ursachen für Adipositas im Kindes- und Jugendalter sind vielschichtig und keinesfalls ausschließlich mit falschem Essen zu erklären. Es kommen immer mehrere Faktoren zusammen wie schlechte Vorbilder und psychosoziale Entwicklungsstörungen. Deshalb kann ein Therapieansatz niemals nur die Kalorienreduktion verfolgen, sondern muss Medizin, Ernährungsberatung, Sport und Psychologie vereinen – und das sowohl für die Kinder und Jugendlichen als auch für die Eltern!“ Deshalb werden im Adipositaszentrum Oberhausen die jungen Patienten und ihre Eltern parallel therapiert: 12 Monate lang kommen die Eltern und Kinder bzw. Jugendlichen 2x wöchentlich zur Gruppenstunde. Flankiert von medizinischen Untersuchungen werden intensive Ernährungsberatung und -schulung, Verhaltenstherapie und Sporteinheiten in Schwimm- und Turnhallen durchgeführt.Zusätzlich erhalten die jungen Patienten und ihre Eltern Arbeitsblätter, die sie zu Hause ausfüllen sollen. Neben der Festigung von den erworbenen Kenntnissen geht es um Dokumentation: „Ein erklärtes Ziel unseres Programms ist die Förderung der eigenen Wahrnehmung. Die Kinder und Jugendlichen müssen lernen, ihren Körper und ihre tatsächlichen Bedürfnisse wahrzunehmen. Die Dokumentation eines selbst gesteckten Zieles wie z.B. das Essen von Gemüse, hilft auf dem Weg zu einer realistischen Einschätzung und damit auch zu einem gesunden Selbstmanagement.“
Patienten sind oft jünger als acht Jahre
Im Adipositaszentrum Oberhausen gibt es mit dem Therapieprogramm „TOMMY“ auch ein Angebot für die Kinder, die jünger als acht Jahre alt sind. Die Themen, die hier vermittelt werden, sind die gleichen wie im T.O.M._Programm, lediglich die Aufbereitung ist spielerischer. Frau Dr. Chen-Stute: „Für uns ist es immer wichtig, dass die Kinder begreifen, was wir ihnen vermitteln – im ursprünglichsten Sinne. Das heißt, wenn wir über Lebensmittel sprechen oder gemeinsam kochen, sollen die jungen Patienten möglichst viel riechen, schmecken, fühlen ... eben wirklich erfahren. Und es ist für uns entscheidend, dass Zusammenhänge verstanden werden: Wenn wir vermitteln, dass Trinken wichtig ist, erläutern wir auch die Funktion der Niere – für die ganz Kleinen spielerischer, für die Jugendlichen und Eltern sachlicher.“Die Hauptsache ist, dass das Programm zum Ziel führt und das ist in im Adipositaszentrum Oberhausen die Steigerung der Lebensqualität. Chen-Stute: „Der Weg dorthin ist sicher nicht einfach – aber wenn die Familie zusammenhält und alle motiviert mitmachen, gelingt das. Die Kinder müssen spüren, dass ihre Eltern hinter ihnen stehen und konsequent mitarbeiten. Nur so ist ein Erfolg dann auch nachhaltig.“
OBELDICKS ist das Konzept der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln
So auch in der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln. Unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas Reinehr bietet man hier das ambulante Therapiekonzept „OBELDICKS“ an. Über ein Jahr hinweg treffen sich übergewichtige Kinder in altersähnlichen und gleichgeschlechtlichen Gruppen zu Bewegungstherapie, Verhaltentraining und Ernährungskurs.Eltern sind auch beim Thema Essen Vorbilder
Auch hier geht ohne die Eltern gar nichts. Den Eltern und Familien wird im Rahmen von Elternabenden und Einzelgesprächen Hilfestellung für die Unterstützung Ihrer Kinder gegeben und die Theorie und Praxis einer optimierten Kost dargeboten. Daneben geben Elterngesprächskreise reichlich Möglichkeit zum gegenseitigen Austausch. „Eltern sind Vorbilder, sie sollten den Kindern vorleben, was zu einer gesunden Lebensweise gehört“, sagt Prof. Dr. Thomas Reinehr. Und gerade hier macht das Team der Vestischen Kinderklinik die Erfahrung, dass vielen Eltern schlichtweg die wichtigen Informationen fehlen.Aufklärung ist entscheidend
Aufklärung scheint also das A und O auf dem Weg zu einer gesünderen Gesellschaft zu sein. Dabei geht es nicht um das Ringen um utopische Körpermaße, die eben auch nicht gesund sind. Hochglanzmagazine mit den abgebildeten „Hungermodels“ sind da weiterhin nur kontraproduktiv. Das gesunde und anzustrebende Maß ist keinesfalls die Hosengröße Zero – der gute alte BMI bleibt da die verlässliche Richtgröße.Clean-Labeling macht den Einkauf schwer
Aber selbst, wenn sich Eltern Mühe geben und eine gesunde Lebensweise anstreben, gibt es noch Stolperfallen, die viele, die mit Thema Ernährung beschäftigt sind, deutlich anmahnen: die Fallen der Lebensmittelindustrie. In dem Glauben, Gutes für den Nachwuchs zu tun, indem Bio-Cerealien und Milchlieferanten selbstverständlich zum Wocheneinkauf gehören, sitzen die Konsumenten einer schlichten Lüge auf. „Clean-Labeling“ ist das Fachwort für dieses Gebaren.Dabei werden Waren mit Etiketten versehen, auf denen es z.B. heißt: „ohne künstliche Aromastoffe“ oder „ohne Geschmacksverstärker“. Oder solche, die gleich mit der „Extraportion Milch“ aufwarten oder suggerieren, hier sei „nur das Beste für Ihr Kind“ verarbeitet. Die kindgerechte Aufmachung mit gezeichneten Tieren oder Comicfiguren, die speziell abgestimmte Namengebung oder zusätzliche Verlockungen wie Bonuspunkte, kleine Spielmaterialien wie Magnete oder Aufkleber tun ihr Übriges. Und das, obwohl gerade diese Kinderlebensmittel in aller Regel vor Fett und Zucker nur so strotzen.
Die Politik muss handeln
Auch hier muss ein Umdenken erfolgen, wollen wir nicht länger unsere Kinder dem verhängnisvollen Trend aussetzen. Prof. Dr. Hamelmann betont: „Hier ist die Politik gefordert. Sie muss dieser Verführung durch zu zuckerhaltige Energieriegel oder zu fetthaltige Puddings Einhalt gebieten.“ Sonst überfüttern wir weiter unsere Kinder, und das macht auf Dauer unsere ganze Gesellschaft krank.Quelle: Gesundheits-Magazin-Ruhr