Dann knallt der Motor auseinander - Tim Raue im Interview Nils Hasenau

Dann knallt der Motor auseinander - Tim Raue im Interview

Vogelzwitschern im Hintergrund und ein nettes Plätzchen auf einer Parkbank in München. Wir haben einen äußerst relaxten Tim Raue zu einem sehr offenen Gespräch über An- und Entspannung, Kunst und Kritik getroffen.

Lesen Sie hier ein leicht gekürzte Version des Interviews mit Tim Raue. Unten finden Sie die Audiodatei zum Anhören des kompletten Gesprächs.

worlds of food: Tim, Sie gelten als sehr ehrgeizig und haben auch einiges erreicht. Gibt es denn noch konkrete Ziele, die Sie haben?

Tim Raue: Jeden Morgen wieder aufstehen und alles erledigen, was anfällt. Das ist mittlerweile genug (lacht). Nein, ich schaue eigentlich sowieso immer relativ entspannt nach vorne. So etwas wie „Chef´s Table“ kann man ja genauso wenig definieren, wie regelmäßig Sterne oder Punkte zu bekommen. Die werden ja von anderen vergeben. Wir können nur schauen, dass wir uns stetig weiterentwickeln und dabei unserem Stil treu bleiben – egal in welchem Outlet. […] Wir versuchen, es so interessant zu machen, dass die Gäste es haben wollen.

Sie formulieren also nicht das Ziel, dass Sie drei Sterne erringen möchten?
Tim Raue: Das ist für mich kein Ziel. Wir tauschen uns ja auch mit dem Guide Michelin aus und ich weiß, dass wir dafür nicht vorgesehen sind und bin da relativ entspannt.

derk hoberg tim Raue
Derk Hoberg traf Tim Raue in München

Wie wäre es, wenn der Guide Michelin einen Ratschlag erteilt, wie zum Beispiel, Ihre Servicekräfte in strengere Uniformen zu stecken?

Tim Raue: Das ist Quatsch. Der Michelin bewertet für die Sterne ja tatsächlich nur das Essen. Aber sie haben dort natürlich auch Maßstäbe. Die Frage ist nur, ob man das tun will, was die Kritiker wollen. Selbst der Michelin sagt ja, dass man es nicht möchte, dass die Köche nach ihrer Pfeife tanzen. Sie sollen das machen, was sie machen und der Guide Michelin bewertet das.

Sie wirken gerade sehr entspannt und ausgeglichen. Als Außenstehender hatte ich häufig den Eindruck, Sie brennen regelrecht für Ihre Ziele. Haben Sie bei all Ihren Aufgaben nicht Angst davor, die Arbeit könnte Sie auffressen, Sie könnten ausbrennen?

Tim Raue: Das habe ich ja schon gehabt, schon relativ früh mit 26, 27 Jahren die ersten körperlichen und seelischen Niederschläge erlitten – aufgrund dessen, dass ich eben immer nur Vollgas gegeben habe – und bin dann ein paar Mal umgekippt. Daraus habe ich gelernt. […] Wenn ich mich jetzt noch so verrückt machen würde, dann könnte ich das nicht mehr machen. Das habe ich mit Anfang oder teilweise mit Mitte 30 noch gemacht. Mit Anfang 40 weiß ich jetzt einfach relativ genau, was ich will und formuliere das auch. Das gibt mir Kraft und Energie. Ich brenne schon noch, das ist nicht das Thema. Aber an solche Interview-Fragen bin ich gewöhnt inzwischen und das Brennen entsteht dann eher, wenn ich am Pass stehe oder ein Gericht koordiniere. Es macht keinen Sinn, das ansonsten im Leben zu haben, denn sonst brennt man wirklich irgendwann aus. Wenn man immer auf 110 Prozent läuft, dann knallt der Motor auseinander. Ich werde wahrscheinlich auch in zwei bis drei Minuten anfangen zu gähnen. Einfach, weil mein Körper sich darauf einstellt, dass gerade nicht die ganz große Belastung oder Stress herrschen.

Anfangs arbeiteten Sie sehr hart, um alle Kniffe in der Küche zu erlernen – es ist Ihnen also nicht alles zugeflogen. Ändert sich das, findet man einen besseren Zugang dazu mit der Zeit und fällt es einem leichter, beispielsweise neue Gerichte zu entwickeln?

Tim Raue: Das ist viel schwieriger geworden, weil es natürlich irgendwann Gerichte gibt, die herausragend sind, wegen denen die Gäste kommen. Dann entwickelt man neue und man merkt schnell, dass vielleicht nur eines von zehn Gerichten auf der Karte das Zeug dazu hat, wirklich herausragend zu sein. Ebenso, dass Gäste und Kritiker darüber sprechen. Das ist ein Thema, dass mich gerade sehr intensiv beschäftigt. Ich glaube, dass jeder Koch vielleicht zwei Dutzend Gerichte entwickelt – wenn überhaupt – die Signature Dishes sind. Ich bin noch nicht im zweistelligen Bereich angekommen mit meinen Sachen. […]


Das Interview mit Tim Raue zum Nachhören


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Es ist Ihnen auch wichtig, klarzustellen, dass Sie sich aus einer schwierigen Jugend kommend nach oben gekämpft haben…

Tim Raue: …das wollte ich nie darstellen, das haben die Medien gemacht.

Aber es ist Teil Ihrer Geschichte…

Tim Raue: …ja, das ist es, seit die Boulevardmedien es herausgekramt haben.

Nun ist es Ihnen gelungen und mit dem Kochen sehr erfolgreich gelaufen. Könnten Sie sich aus heutiger Sicht ein anderes Thema vorstellen, mit dem Sie so erfolgreich hätten werden können?

Tim Raue: Kein legales (lacht). Ich wusste damals nicht, womit ich anfangen sollte. Ich wusste, dass ich beim Fußball sehr gut war, aber da hat mir der Ehrgeiz gefehlt und ich habe auch nicht für das Training gebrannt. Beruflich kann ich es deshalb wirklich nicht sagen. Aber wenn ich etwas mehr als mag, wenn ich es liebe, dann mache ich es mit all meiner Passion. Dabei habe ich gemerkt, dass ich auch nichts verkaufen oder darstellen muss, dann mache ich das einfach. Das funktioniert und ist sehr authentisch. […]

Sie polarisieren gerne, das geben Sie offen zu…

Tim Raue: Ich polarisiere, ja. Das habe ich gelernt und für mich akzeptiert. Das war nicht einfach, denn ich hatte auch Zeiten, in denen ich gefallen wollte. Am Anfang hatte ich eine andere Grundmentalität und sagte einfach: „F… euch! Es interessiert mich nicht, was ihr denkt, ich mache was ich will“. Daraufhin habe ich festgestellt, dass die Gäste das Ergebnis daraus entweder geliebt oder gehasst haben. Es gab aber nichts dazwischen. Als ich das dann abgelegt und begriffen habe, dass ich nicht jedem erzählen muss – auch nicht auf den Tellern –, dass es mir egal ist, was sie denken, hat sich das dramatisch gewandelt. 80 Prozent fanden es plötzlich sehr, sehr gut, was ich machte, 10 Prozent fanden es megageil und die übrigen 10 fanden es megascheiße. Meine Grundhaltung ist aber bis heute, dass es mich nicht zu interessieren hat, was andere davon halten, ob etwas zu sauer ist oder was weiß ich was, denn dann bin ich nicht mehr ich. […]

Perlt denn Kritik einfach so an Ihnen ab?

Tim Raue: Nein, nein! Kritik perlt nie ab. Kritik ist ein nie endendes Leid. Das ist auch ein Thema, das ich in den letzten Jahren mit vielen Menschen besprochen habe. Gerade jetzt auch wieder bei der Verleihung der World´s 50 Best Restaurants in Melbourne und auch mit Künstlern. Und im Gegensatz zu manchen Kollegen sehe ich uns Köche zur Hälfte als Handwerker und zur anderen eben als Künstler. Man kann also einen Steinbutt fachgerecht zerlegen, portionieren und ihn auf den Punkt garen. Das Gericht aber, dass man daraus macht, die Aromen, das ist eine Komposition. Das ist Kunst, das ist für mich eine Kreation im Endeffekt. Das faszinierende ist, dass man dabei ganz viel von sich selbst gibt. Und wenn dann einer kommt und sagt, das schmeckt scheiße, das ist zu salzig gewesen, die Säure haut da nicht hin, wie kommen Sie auf so eine dämliche Idee, dann trifft das bis ins Mark. Das muss man lernen und das hat bei mir viele Jahre des Trainings und der Psychotherapie gebraucht, um zu verstehen, dass einen nicht alles betreffen darf, was von außen kommt. […]

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Tim Raue beim Rheingau Gourmet Festival 2016

Nun haben wir viel über Anspannung gesprochen und darüber, für etwas zu brennen. Wie entspannen Sie sich denn, wenn Sie die Zeit dafür haben? Sport, Lesen, Filme, Musik?

Tim Raue: Musik ist gar nicht meine Welt, da werde ich, glaube ich, auch nie einen richtigen Zugang dazu finden. Ich liebe ja die Stille. Wenn es still ist, dann kann ich sofort abschalten. Ich lese gerne, vor allem Bücher. Mit so einem Kindle kann ich gar nichts anfangen und ich gehöre deshalb zu denen, die beim Flug auf eine einsame Insel mächtig Übergepäck zahlen müssen. Sport? Ja, immer mehr und ich merke auch, dass es mir unglaublich gut tut – und ich auch abnehme. Aber das elementarste ist tatsächlich, dass ich gelernt habe zu unterscheiden. Das heißt, dass ich sehr schnell und situativ den Schalter umlegen kann zwischen in der Küche Gas geben oder rausgehen zu einem Interview oder um nach den Gästen zu sehen. In diesen Momenten bringt es nichts, adrenalingeschwängert in den Raum zu kommen. In den Momenten dazwischen gibt es also immer eine kurze Atempause und ich gucke, was anfällt und wo es hingeht. Das ist jetzt aber schon ein bisschen die Weisheit des Alters und ich gehöre zu den Menschen, die enorm schnell aus Fehlern lernen und versuche, sie auch immer nur einmal zu machen – mit Betonung auf versuche.

Wir bedanken uns bei Tim Raue für das offene Gespräch, das letztlich doch ganz ohne Gähnen vonstattenging.

Hintergrund

Das Interview wurde im Rahmen der Vorstellung seines Sommermenüs in der Brasserie Colette by Tim Raue in München geführt. Drei dieser Restaurants (Berlin, München, Konstanz) betreibt der Zwei-Sterne-Koch als kulinarischer Partner der Tertianum Premium Residences.

Weitere Infos finden Sie unter tim-raue.com und www.brasseriecolette.de